Sonntag, 11. August 2013

Willy Ronis – Eine Ästhetik des Rückens

Willy Ronis 1997 im Alter von 87 Jahren.    


Noch einen knappen Monat, bis zum 1. September, zeigt das Kunstmuseum Picasso Münster eine umfangreiche Retrospektive zu Willy Ronis. Als erstes deutsches Museum zeigt es eine vielseitige Auswahl aus dem Oeuvre von Ronis, das sich auf etwa 95.000 Fotografien beläuft und das neben der Agentur Rapho der französische Staat besitzt. Dieser Umstand liefert auch den Grund, warum Ronis bei uns in Deutschland weniger bekannt ist, denn er wird als französischer Nationalkünstler angesehen und geschätzt und deswegen nur ungern ins Ausland verliehen. Ein Grund mehr, warum man sich die Ausstellung nicht entgehen lassen sollte.
Willy Ronis wurde 1910 am „Fuße des Montmatre“, poetisch ausgedrückt, geboren. Sein Vater besaß ein kleines Geschäft mit Fotografiebedarf und fotografierte auch selbst die gehobene Bürgerschicht in starren, konservativen Familienporträts. Etwas, was Ronis nie anstrebte. Er lernte bei einem Besuch der „Société franςaise de photographie“ eine Fotografie kennen, die eine Kunst war und etwas in ihm auslöste. Erst zu diesem Zeitpunkt beschloss er, Fotograf zu werden. Und er schloss sich einer jungen Richtung an, die sich der „humanistischen Fotografie“ verschrieben hatte. Wie der Name bereits vermuten lässt, geht es hier um eine Kunst, die den Menschen und sein Innenleben, aber auch seinen Alltag und seine soziale Wirklichkeit in den Fokus rückt. Zunächst geschah dies bei Ronis durch Aufnahmen der Arbeiterproteste in Frankreich in den 1930er Jahren.


Willy Ronis, Streik bei Citroën-Javel, 1938



Zunehmend beschäftigte er sich dann aber mit ganz alltäglichen Situationen im menschlichen Leben, auf der Suche nach spontanen Gefühlsausdrücken. Nie wollte er eine universelle Wahrheit finden oder eine ganz besondere Geschichte darstellen. Immer sollten es, so Ronis selbst einmal, Geschehnisse mitten aus dem Leben gegriffen, sein.



Willy Ronis, Der kleine Pariser Junge, 1952.

Die Spontanität war ihm bei solchen Aufnahmen besonders wichtig. Denn sie war einer der Kernpunkte, der die humanistische Fotografie, oder, wie Sontag einmal sagte, die „anteilnehmende Fotografie“ ausmachte. Dieser Ansatz ist insofern sinnvoll, als das man ja auf der Suche nach den reinen Emotionen des Menschen, ja nach dem Menschen selbst, war. Hätten die Befürworter dieser Kunstrichtung nun mit Modellen gearbeitet oder gar ihren Objekten auf der Straße geraten, wie sie sich positionieren sollten, dann hätten sie nur die Maske des Menschen fotografieren können. Das typische „Foto-Gesicht“, das jeder von sich selbst kennt, sobald eine Kamera in der Nähe ist. Wie spontan die Aufnahmen dann tatsächlich waren, möchte ich nicht beurteilen. Es sei nur so viel gesagt, dass, im Falle der beiden Pommes Frites-Verkäuferinnen, eine gehörige Menge Posieren hinzukommt. Denn, wie bereits angedeutet, sobald unser Auge eine Kamera erblickt, setzt unser Ich eine Maske auf. Und diesen beiden abgelichteten Damen darf durchaus bewusst gewesen sein, dass sie fotografiert werden.


Willy Ronis, Pommes-Frites-Verkäuferinnen, Rue Rambuteau, 1946.

Und Ronis Dementi betreffend, er habe bei seinen Straßenfotografien nicht mit Modellen gearbeitet, möchte ich nur an seinen Kollegen Robert Doisneau und seine Fotografie „Baiser de l´Hôtel de Ville“ erinnern. Denn erst als dieser von dem angeblichen Paar auf dem vermeintlichen Schnappschuss verklagt wurde, gab er zu, einem Schauspielpaar ein Honorar für die Fotografie gezahlt zu haben. Mit der Spontanität ist es also immer so eine Sache.


Robert Doisneau, Baiser de l´Hôtel de Ville, 1950.

Ich möchte nun noch eine Arbeit in den Vordergrund rücken, die mich angesprochen hat und die ich versuchsweise unter dem Aspekt des “Zuschauers” oder des “Betrachters” kurz diskutieren möchte. Es handelt sich dabei um den „Provenzalischen Akt“


Willy Ronis, Provenzalischer Akt, 1949.

Diese Fotografie hat Ronis im Jahre 1949 von seiner Frau Marie-Anne Lansiaux angefertigt, in einem kleinen Landhaus in Gordes, das die beiden kurz vorher gekauft hatten. Das Werk sollte in Frankreich bald zur Inkunabel des französischen „Midi“ werden, denn nicht wenige Parisiens träumten davon, in der Mittagszeit („Midi“) aus der Großstadt hinaus aufs Land zu fliehen. An einen Ort ohne Lärm, stickige Luft und Hitze. Und vor allem ohne alles Neumodische, das die Stadt Paris schon seit einiger Zeit bestimmte. Das Bild von Marie-Anne vermittelt eben all das. Ihr Boudoir ist spartanisch eingerichtet, es gibt weder Elektrizität noch fließendes Wasser. Nur ein Bretterverschlag dient als Fensterverschluss und im Freien zeigt sich viel Grün. Zudem wendet sich Marie-Anne, einer Venus pudica gleich, ab vom Betrachter und präsentiert ihm ihren Rücken. Zu dieser Fotografie gab Ronis uns eine knappe Werkgenese. Er beschreibt darin, wie er an einem heißen Sommertag an Marie-Annes Zimmer vorbei ging und bemerkte, dass seine Frau kurz vorher von ihrer Mittagsruhe aufgewacht war und sich nun vor dem kleinen Spiegel über der Wasserschale erfrischte. Diesen Moment hielt er mit der Kamera in vier Aufnahmen fest. 


Williy Ronis, Serie von Marie-Anne Lansiaux, 1949. 

Betrachtet man diese Serie, fällt auf, dass Marie-Anne während der Bilder 2 – 4 bemerkt hatte, dass ihr Mann sie fotografiert. Sie schaut ins Freie, ihr Gesicht zeigt sich nun im Spiegel und zuletzt dreht sie sich auch um. Doch Ronis hat für die Veröffentlichung die erste Fotografie gewählt, in der seine Ehefrau noch nicht das Geräusch der Kamera gehört hatte und sich unbefangen und natürlich zeigt. Möglicherweise war eben dies ausschlaggebend, dass sie auf der ersten Aufnahme nicht posiert und nichts an ihr gestellt wird. Denn genau das müsste Ronis als Vertreter einer spontanen, sich auf der Suche nach dem menschlichen Ich befindenden, Kunstrichtung gefallen haben. Doch ich meine, dass noch etwas anderes dahinter steckt und das ist das Spiel zwischen Distanz und Nähe, das sich uns hier zeigt. Wir erblicken Marie-Anne in einer sehr intimen Situation. Sie ist nicht nur gänzlich unbekleidet und präsentiert sich uns ohne irgendeinen Teil mit ihren Händen oder durch ihre Haltung zu verstecken. Zudem befindet sie sich in ihrem Boudoir und erfrischt sich gerade nach einem Mittagsschlaf. Ein Moment wird demnach dargestellt, in dem man gerne alleine wäre und sich nicht fotografiert wissen möchte. Wir haben das Gefühl, gerade eine sehr intime Beziehung zu Marie-Anne aufzubauen. Aber abrupt wird der Betrachter fortgestoßen. Obwohl er sich der Dargestellten in seiner voyeuristischen Position besonders nahe fühlt, fehlt etwas Entscheidendes. Es ist ihm nicht möglich, die Frau zu identifizieren, denn sie zeigt ihm ihr Gesicht nicht. Sieht er sie auf offener Straße, würde er sie nicht erkennen können. In diesem Bewusstsein wartet der Betrachter gespannt vor der Fotografie, wartet darauf, dass sich wie durch Zauberhand doch noch das Gesicht Marie-Annes im Spiegel zeigt. Sie müsste es nur ein wenig anheben. Natürlich weiß jeder, dass dies nicht passieren wird und uns eine Identifikation der Dame versagt bleiben wird. Meiner Meinung nach macht genau dieses Spiel zwischen Nähe und Distanz den Reiz des Bildes aus. Wir werden veranlasst, zu warten, genau zu betrachten und uns vorzustellen, wie die Dargestellte wohl aussehen mag. Trotzdem wissen wir, dass wir das Rätsel hier nicht lösen können.
Willy Ronis ist natürlich nicht der einzige Künstler, der den Rücken und seine verführerischen Seiten darstellte. Das bekannteste Werk in der Fotografie ist wohl Man Rays „Le Violon d´Ingres“.


Man Ray, Le Violon d´Ingres, 1924.

Als stummer Vergleich sei einmal “Deenas Rücken” von Willy Ronis gezeigt.


Willy Ronis, Deenas Rücken, 1955.

Beiden Fotografien kann man eine Verwandtschaft zu einem bekannten und sehr geschätzten französischen Künstler nachweisen. Man Ray verweist sogar im Titel seines Fotos auf ihn. Es handelt sich dabei um Jean-Auguste-Dominique Ingres und seine badenden Odalisken. Dass Ronis beispielsweise Ingres „Badende“ kannte, kann als sicher angesehen werden.


Jean-Auguste-Dominique Ingres, Die Badende, 1808.

Denn er war zwar nie an einer Académie eingeschrieben, aber er hat oft beschrieben, wie er den Akademieschülern in den Louvre gefolgt ist und beobachtet hat, vor welchen Werken sie sich mit ihren Utensilien positionierten. Unbewusst hat er sich auf diese Weise den Kanon der Académie des Beaux-Arts angeeignet und für die Rückenakte offensichtlich ein besonderes Interesse gehegt. Auch dies mag ein Grund sein, warum er sich zu diesen Fotografien entschieden hat. Meiner Meinung nach aber geht es doch hauptsächlich um das Spiel mit Distanz und Nähe, das Ronis in seinen Fotografien für uns aufbaute und uns emotional ansprach, den Detektiv in uns weckte (um zu erforschen, um wen es sich handeln könnte) und uns immer wieder davor verharren ließ.

Liza








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