Jacques Rancière, 2006.
Da wir uns in unserem Blog immer
wieder die Frage nach dem „Zuschauer“ und dem „Beobachter“ gestellt haben, ist
es jetzt an der Zeit, einmal theoretisch die Frage des „Zuschauers“ zu
beleuchten. Ich möchte daher einige Gedanken äußern, die Jacques Rancière und
seine Zuschauertheorie betreffen. Besprechen werde ich das erste Kapitel im
seinem gleichnamigen Buch „Le spectateur émancipé“, das in der Originalausgabe
im Jahr 2008 erschienen ist. Rancière eröffnet hier die Fragestellung nach dem
Zuschauer mit einem Gedanken, der das Denken der Emanzipation zusammenbringen
soll mit dem Problem des „spectateur“. Er kann unterschiedlichen Arten des
theatralischen Schauspiels beiwohnen: Tanz, Performance, dramatische Handlung,
Pantomime und anderen Darstellungen, bei denen sich ein Körper vor ein
versammeltes Publikum bringt.
Sobald ein derartiges
theatralisches Spektakel begann, gab es in seiner Geschichte zahlreiche
Kritiken, die auf eine einfache Formel reduziert werden können, die Rancière
das „Paradox des Zuschauers“ nennt. Dies fasst er wie folgt zusammen:
1. Ohne Zuschauer gibt es kein
Theater. Das ist eine Voraussetzung
2. Der Zuschauer ist in diesem
Zusammenhang ein absolut passives Wesen. Er steht einer Erscheinung gegenüber,
deren Wirklichkeit und Herstellungsvorgang er nicht kennt. Er ist getrennt von
der Fähigkeit der Erkenntnis und der Fähigkeit des Handelns.
Daraus haben sich zwei mögliche
Schlussfolgerungen entwickelt:
1. Die Theorie, die bereits Platon
aufgestellt hatte: Das Theater ist schlecht. Es bringt seine Zuschauer dazu,
ihren Willen zu Erkenntnis und zum Handeln aufzugeben, zugunsten eines passiven
Blicks auf leidende Menschen. Der Betrachter löst sich von sich selbst, er ist
nur noch Sehender, der sich der Illusion hingibt.
2. Die Theorie der Kritiker der
theatralischen Mimesis: Nicht das Theater selbst ist schlecht, sondern seine
direkte Verbindung zum Zuschauer ist es. Zuschauer sein ist ein Übel und man
muss das Theater von diesem Übel befreien. Es brauchte also ein Theater ohne
passiven Zuschauer, ihre Körper sollten mobilisiert werden. „Man braucht ein
Theater ohne Zuschauer, wo die Anwesenden lernen, anstatt von Bildern verführt
zu werden, wo sie aktive Teilnehmende werden, anstatt passive Voyeurs zu sein.“
Aus der Theorie der Kritiker der
theatralischen Mimesis haben sich wiederum zwei Lösungsansätze entwickelt, die
unterschiedlicher nicht sein könnten und trotzdem immer wieder gerne vermengt
werden:
1. Der Zuschauer als Detektiv. Man
zeigt ihm ein ungewöhnliches, rätselhaftes Schauspiel, das der Zuschauer selbst
entschlüsseln muss. Durch die Suche nach einem Sinn hinter dem Gesehenen und
dem Grund für das Ungewöhnliche wird er sich von der Identifikation mit den
Figuren lösen und seine Stumpfsinnigkeit und Passivität überwinden.
2. Der Zuschauer als distanzloser
Handelnder. Die Distanz, die im ersten Lösungsansatz zwingend notwendig ist, muss
hier abgelegt werden. Der Zuschauer soll nicht Beobachtender sein, sondern sich
einer beispielhaften Situation gegenüber sehen, die ihn zum Handeln veranlasst
und ihm hilft, sich weiterzuentwickeln im Treffen von Entscheidungen und
Bewerten von Situationen.
Auch wenn diese beiden
Lösungsansätze sich vollkommen entgegen zu stehen scheinen, so besitzen sie doch
eine gemeinsame Prämisse, der sie folgen. Dabei handelt es sich um die
Vorstellung, dass das Theater die lebendige Gemeinschaft verkörpert. Es ist
eine Versammlung, in der die Menschen ihre Situation begreifen, ihre Interessen
diskutieren und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. So lernt sich das
Publikum auch selbst als Kollektiv kennen. Doch bleibt der Zuschauer in seiner
passiven Rolle verhaftet, zeigt dies das Scheitern des Theaters und wofür es
steht. Um dem entgegenzuwirken, die Zuschauer zu einer passiven Gemeinschaft zu
machen und nicht mehr als Erkenntnis produzierendes Spektakel zu agieren, soll
der Zuschauer die Mittel und Wege erlernen, sich aus dieser Lage zu befreien.
Die Krux dieser Situation wird
deutlich, wenn man sich mit Rancière beschäftigt. Das Theater ist hier nämlich gleichzeitig
Verursacher und Befreier der Situation des Zuschauers. Es möchte ihn aus der
Passivität befreien, in die es ihn gedrängt hat und das wiederum will es durch
das Spektakel selbst erreichen. Besonders deutlich macht dies Rancières Satz:
„Im einen wie im anderen Fall stellt sich das Theater als eine Vermittlung dar,
die auf ihre eigene Aufhebung ausgerichtet ist.“
Und eben dieser Sachverhalt ist es,
der nach Rancière die Verbindung zur intellektuellen Emanzipation ermöglicht.
Als Beispiel führt er die Schule an mit ihrem Verhältnis von Lehrer und
Schüler. Der Lehrer versucht, den Schüler aus der Unwissenheit zu befreien,
indem er mit ihm sein Wissen teilt. Wenn der Vorgang abgeschlossen ist, sollten
idealerweise (und heute auch utopischerweise) beide das gleiche Wissen besitzen
und somit hätte sich die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler aufgehoben,
beziehungsweise transformiert in eine Beziehung Gleichgestellter. Doch dies
wird dem Schüler nie gelingen. Indem der Lehrer dem Schüler sein Wissen
vermittelt, erschafft er jedes Mal erneut einen Abstand zwischen seinem Wissen
und der Unwissenheit des Schülers. Denn erst durch den Lehrer wird dem Schüler
seine eigene Unwissenheit bewusst, die sonst für ihn selbst nicht existent
wäre. Und die Unwissenheit gilt in diesem Falle nicht als „weniger Wissen“
sondern wird zum „nicht Wissen“ degradiert. Eine Hierarchie des Wissens und der
Wissenden kann sich auf diese Weise also etablieren. Auch Jacotot hat dieses
System erkannt (von ihm „Verdummung“ genannt) und ihm die „intellektuelle
Emanzipation“ entgegengesetzt. Demnach gibt es keine zwei ungleichen
Intelligenzen (Wissen vs. Nicht-Wissen), sondern nur eine Gleichheit der
Intelligenz. Der Mensch wird lernen, was er sieht, er wird verstehen, was ihn
umgibt und was ihm geschieht. Und dabei geht es nicht um die Distanz zwischen
zwei Intelligenzen, die abgeschafft werden soll (durch das Lernen vom
Wissenden), sondern es handelt sich um Kommunikation. Denn wenn wir alle das
Gleiche wissen würden, wäre eine Kommunikation überflüssig. Um diesen Zustand
zu erreichen, muss der Lehrer, so Jacotot, seine Position als Wissender
aufgeben. Er selbst darf nicht mehr meinen, die Distanz zwischen seinem Wissen
und dem seines Schülers verringern zu müssen. Er soll seinen Schüler vielmehr
anleiten, selbst zu lernen, zu sehen und zu verstehen. Nur so wird die
Hierarchie des Wissens und der Wissenden durchbrochen und erlaubt eine
intellektuelle Emanzipation.
Die Verbindung zwischen
intellektueller Emanzipation und der Frage nach dem Zuschauer:
Ebenso wie Jacotots System der
„Verdummung“ funktionierte auch der Versuch des Theaters, die Zuschauer aus
ihrer passiven Rolle zu befreien. Die Theatertheorie unterlag bei der Annahme,
„nur“ Sehen sei stumpfsinnig und nicht erkenntnisorientiert, ebenso einem
Irrtum wie der Lehrer, der meinte, sein Schüler wisse „nichts“. Denn auch im
Theater wird die Distanz zwischen Zuschauer und Handelndem, passiv und aktiv,
sehen und erkennen/verstehen, die es aufheben will, erst vom Theater selbst
erschaffen. Wer legt fest, dass das Sehen nur passiv funktioniert und nicht
etwa ein aktiver Vorgang wie der der Erkenntnis ist? Und wer konstituiert,
welche der beiden Zuschauerhaltungen nun die „Gute“ und die „Schlechte“ ist?
Und warum kann Sehen nicht auch Erkenntnis sein? All das sind Kategorien, die
erschaffen wurden und in Stein gemeißelt erscheinen, aber anstatt die Distanz
abzuschaffen, schaffen sie sie erst. Entwickelt man Rancières Gedanken weiter,
so müsste die intellektuelle Emanzipation auf der Ebene des Theaters wie folgt
funktionieren: Das Theater und seine Theoretiker lassen ab von der Vorstellung,
es gäbe „Sehen“ (Passiv) und „Erkennen/Handeln“ (Aktiv) als zwei
unterschiedliche Kategorien wie „Nicht-Wissen“ und „Wissen“. Stattdessen
erkennen sie die Gleichwertigkeit jener Zuschauerarten an und verstehen, dass
die Distanz zwischen diesen beiden Vorgehensweisen allein von ihnen erschaffen
und aufrecht erhalten wurde. Ähnlich wie der Lehrer sollte das Theater die
Aufgabe übernehmen, dem Zuschauer beim Lernen zu helfen und ihn anzuleiten,
aber ihn sich das Wissen/den Sinn des Gezeigten selbst aneignen lassen und
seine Interpretation frei stehen zu lassen. Tatsächlich geht Rancière in seinem
Text diesen Weg und beschreitet ihn noch weiter, indem er verdeutlicht, dass der
Regisseur oder der Lehrer dem Schüler etwas Bestimmtes zeigen oder lehren um
eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Beide vergessen hier aber, so der Autor,
dass das System von Ursache und Wirkung auf dieser Ebene nicht so vereinfacht
funktioniert. Denn immer wird der Schüler oder Zuschauer das Gelehrte und Gezeigte
abgleichen mit eigenen Erfahrungen und daraus möglicherweise eine andere
Wirkung erhalten, als vom Regisseur oder Lehrer beabsichtigt.
Rancière untersucht auf den
folgenden Seiten ebenfalls noch das Verhältnis von Zuschauer, Theater und
Gemeinschaft. Da es mir aber hauptsächlich um eine Definition und
Verdeutlichung des Zuschauerbegriffs Rancières an dieser Stelle geht, möchte
ich auf diese weitergehende Fragestellung nicht näher eingehen. Es war mir
wichtig, einmal diesen für uns (Lara und Liza) so wichtigen Begriff zu
erläutern und ein Konzept vorzustellen, das ein französischer Philosoph
durchaus gut durchdacht hat und mir in vielerlei Hinsicht schlüssig erscheint.
Ich möchte damit nicht die Meinung Rancières vertreten, aber ich muss sagen,
dass sich einem seine Theorie deutlich und klar erschließt und wunderbar
ineinander greift.
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