Freitag, 5. April 2013

Die Picassos aus Arles: Tagebuch eines Malers



 
Pablo Picasso, Die Tarasque, 1971, Musée Réattu, Arles. 


Arles, Südfrankreich, 1971. Der Direktor des Musée Réattu Jean-Marie Rouquette erhält einen Anruf und steht kurze Zeit später vor 57 Zeichnungen, die er in seinem Museum ausstellen soll. Die Graphiken stammen von keinem geringeren als Pablo Picasso, der zu dieser Zeit bereits in der Villa Notre-Dame-de-Vie in Mougins bei Cannes lebte, unweit von Arles. Geschaffen hatte er den Zyklus zwischen dem 31. Dezember 1970 und dem 4. Februar 1971, jedes Werk ist datiert, signiert und im Falle einer Serie auch nummeriert. Daher entstand auch die Idee zum Titel „Tagebuch eines Malers“, da der Besucher in dieser Ausstellung lückenlos die 36 Tage im künstlerischen Schaffen des Spaniers nachvollziehen kann.
Da Picasso bekannt für seine rasche Arbeitsweise war, mag die Menge von 57 Zeichnungen innerhalb von 36 Tagen vorerst nicht verwunderlich erscheinen. Betrachtet man dann aber beispielsweise die Serie der Musketiere, wird deutlich, mit welchem Schaffensfuror Picasso ans Werk gegangen sein muss.



Pablo Picasso, Musketier (VIII von VIII), 1971, Musée Reattu, Arles    




Die Serie besteht aus acht Zeichnungen gleichen Formats, mal weniger mal mehr ausformuliert, die am Dienstag entstanden sind. Picasso brach hier mit der Vorstellung, dass sich innerhalb solch eines Zyklus eine Weiterentwicklung zum Detaillierten oder Abstrakten vollziehe. Solch ein Fortschritt ist bei den Musketieren nicht zu erkennen. Zeichnungen von einfacher oder besonders detaillierter Manier wechseln sich ohne deutliches Muster ab und nur dank der Nummerierung der Werke von I bis VIII, die Picasso vorgenommen hatte, ist es den Kuratoren heute möglich, die Serie in die korrekte Reihenfolge zu bringen. Man fragt sich aber doch, warum Picasso diese Nummerierung vornahm, wenn keine Entwicklung zu erkennen ist. Nun, zum Einen hat das spanische Allround-Talent beinahe obsessiv seine Werke datiert und signiert: „Das Werk, das man malt, ist eine Art, Tagebuch zu führen“, meinte Picasso zu Tériade einst. Und er war auch der Meinung, Signatur und Datierung würden den Betrachtern seiner Kunst dazu verhelfen,  sie besser zu verstehen, indem sie verstehen, in welchem Lebensabschnitt er sein Werk geschaffen hat. Er konnte nie verstehen, warum es dermaßen zahlreiche Interpretationen zu seinem Werk gab, wo er selbst doch immer nur eine sah. Verraten hat Picasso uns diese Interpretation bedauerlicherweise nicht, aber durch seine penible Art zu signieren, datieren und nummerieren wollte er es uns leichter machen, diese selbst zu entdecken. Eine andere Ursache der Nummerierung liegt meiner Meinung nach ebenfalls im Wunsch, den Betrachtern etwas zu vermitteln. Eben, weil es keine merkliche Weiterentwicklung gibt, hat er die Abfolge der Serie festgelegt und sichtbar gemacht. Es gibt sehr wohl eine Entwicklung von Bild zu Bild, jedes Bild drückt eine Wahrheit des Musketiers aus, die das Bild zu einem eigenständigen Werk und nicht zum Teil einer Serie macht. Doch wollte er die Vorstellung durchbrechen, dass Entwicklung etwas mit „Vorwärtsentwicklung zu tun haben muss. Den Denkprozess des Künstlers offenzulegen, das war die Idee Picassos hinter der Nummerierung.
Mit festen Vorstellungen zu brechen und Tabuthemen auf den Tisch zu bringen, gehörte zu Picassos Lieblingsbeschäftigung. Dies zeigt ein anderes großes Sujet in diesen 57 Zeichnungen. Es geht um erotische, beinahe pornographische Kunst.





Pablo Picasso, Mann mit Gitarre, 1971, Musée Réattu, Arles.


Hier handelt es sich um eine erotisch angehauchte Darstellung, doch einige Werke der Ausstellung zeigen deutliche Phallussymbole und gehen so weit, dass die Handlung oder die Anspielung im Werk ziemlich eindeutig ist. Schon in den Jahren nach der Jahrhundertwende arbeitete Picasso gemeinsam mit dem Schriftsteller Guillaume Apollinaire an pornographischen Darstellungen um gegen den bürgerlichen Moralbegriff zu rebellieren. Nicht nur die Darstellungen von Akten erhalten Einzug in Picassos Werk, auch sexuelle Handlungen bis hin zu Vergewaltigungen zieren sein Oeuvre (Eine Sammlung solcher Werke findet sich in der Suite Vollard). Wieso aber nimmt er noch einmal Anfang der 70er Jahre Bezug auf dieses Sujet, wenn er sein Lebenswerk in diesen Zeichnungen Revue passieren lässt? Ein Grund dafür liegt wohl in der Ausstellungskonzeption jener Zeit. Sie hat diesen Teil aus Picassos Oeuvre größtenteils ausgeklammert und totgeschwiegen. 1971 will Picasso also mehr gegen den Moralbegriff der Museen und Kuratoren rebellieren, als der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Er macht deutlich, dass die Sexualität bis hin zur Pornographie einen wichtigen Teil seines künstlerischen Werkes darstellt und gezeigt werden muss, um sein Oeuvre zu verstehen. Um ein weiteres Mal ist er also an der Sichtweise seiner Werke durch ihre Betrachter interessiert und versucht auf diese Einfluss zu nehmen.
Diese letzte Idee wird auch in der Gesamtkonzeption der 57 Zeichnungen deutlich. Da Picasso  die Serie einzig für das Musée Réattu angefertigt hat, konnte er selbst Einfluss darauf nehmen, wie die Besucher sein Werk 1971 verstehen sollten. Zwei Jahre vor seinem Tod beschäftigt sich der Spanier immer mehr mit der Frage, was sein Lebenswerk ausgemacht hat und was er hinterlässt. Aus diesem Grund stellt sich Schaffen am Ende seines Lebens hauptsächlich graphisch dar, da diese Arbeitsweise um einiges rascher ging als die Ölmalerei oder die Anfertigung einer Skultpur: „Ich habe immer mehr zu sagen und immer weniger Zeit“, soll Picasso kurz vor seinem Tod gemeint haben. Und typisch für einen Künstler, der sich selbst als größter Neuerer seiner Zeit gesehen haben dürfte, setzt er sich mit den wichtigsten Sujets seines Werkes noch einmal auseinander. Dazu gehören neben den historischen-literarischen Paraphrasen nach anderen Künstlern (Musketiere) und den Aktdarstellungen (Sexualität) auch die Harlekine und die Maskerade.



Pablo Picasso, Harlekin, (I von IV), 1971, Musée Réattu.

Der traurige Pierrot ist neben dem Stier eines der frühsten Sujets Picassos. Es taucht 1905 erstmals auf und markiert den Übergang von der blauen zur rosa Periode, ab diesem Zeitpunkt sollte diese Außenseiterfigur Picassos Oeuvre ein Leben lang begleiten und in jedem neuen Stil und jedem neuen Medium des Künstlers auftauchen.
Ziemlich deutlich hat Picasso also noch selbst an dem Bild mitgearbeitet, dass die Nachwelt einmal von ihm und seinem Gesamtwerk haben sollte. Mit neuen Ideen zum Betrachterstandpunkt und zur Behandlung des Betrachters hat sich Picasso nicht auseinandergesetzt. Trotzdem nahm er in zahlreichen Werken Bezug auf seine Zuschauer. Als emanzipiert allerdings könnte man jenen nicht bezeichnen, denn Picasso ist es, der die Ideen und Empfindungen seiner Betrachter lenkt und sie manipuliert, wie er es auch durch die angeblich spontanen Fotografien von sich selbst versuchte, die, wie wir durch die Fotografen erfuhren, penibel geplant wurden.
Ich finde die Ausstellung sehr gelungen und konnte bei den meisten Besuchern vor allem Freude und Amüsement beobachten, denn viele Zeichnungen sind ironisch und stecken voller Anspielungen oder zeigen einen exzentrischen bis beinahe verletzlichen Picasso. Im Zusammenspiel mit den Fotografien aus Arles, die Picasso zeigen, ist der Blick in die 36 Tage im Leben des Künstlers spannend und regt zum Nachdenken an. Schließlich möchte ich noch die Ausstellung in der oberen Etage des Museum erwähnen, sie zeigt das Spätwerk des Künstlers Georges Braque. Und wenn ich auch wenig begeistert bin von den Vogeldarstellungen, ist es allein die Serie zu Hesiods „Theogonie“ wert, diesen Teil der Ausstellung ebenfalls zu besuchen.


Liza





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