Arles,
Südfrankreich, 1971. Der Direktor des Musée Réattu Jean-Marie Rouquette erhält
einen Anruf und steht kurze Zeit später vor 57 Zeichnungen, die er in seinem
Museum ausstellen soll. Die Graphiken stammen von keinem geringeren als Pablo
Picasso, der zu dieser Zeit bereits in der Villa Notre-Dame-de-Vie in Mougins
bei Cannes lebte, unweit von Arles. Geschaffen hatte er den Zyklus zwischen dem
31. Dezember 1970 und dem 4. Februar 1971, jedes Werk ist datiert, signiert und
im Falle einer Serie auch nummeriert. Daher entstand auch die Idee zum Titel „Tagebuch
eines Malers“, da der Besucher in dieser Ausstellung lückenlos die 36 Tage im
künstlerischen Schaffen des Spaniers nachvollziehen kann.
Da Picasso bekannt für seine rasche
Arbeitsweise war, mag die Menge von 57 Zeichnungen innerhalb von 36 Tagen vorerst
nicht verwunderlich erscheinen. Betrachtet man dann aber beispielsweise die
Serie der Musketiere, wird deutlich, mit welchem Schaffensfuror Picasso ans
Werk gegangen sein muss.
Pablo Picasso, Musketier (VIII von VIII), 1971, Musée Reattu, Arles |
Die
Serie besteht aus acht Zeichnungen gleichen Formats, mal weniger mal mehr
ausformuliert, die am Dienstag entstanden sind. Picasso brach hier mit der
Vorstellung, dass sich innerhalb solch eines Zyklus eine Weiterentwicklung zum
Detaillierten oder Abstrakten vollziehe. Solch ein Fortschritt ist bei den
Musketieren nicht zu erkennen. Zeichnungen von einfacher oder besonders
detaillierter Manier wechseln sich ohne deutliches Muster ab und nur dank der
Nummerierung der Werke von I bis VIII, die Picasso vorgenommen hatte, ist es
den Kuratoren heute möglich, die Serie in die korrekte Reihenfolge zu bringen.
Man fragt sich aber doch, warum Picasso diese Nummerierung vornahm, wenn keine
Entwicklung zu erkennen ist. Nun, zum Einen hat das spanische Allround-Talent
beinahe obsessiv seine Werke datiert und signiert: „Das Werk, das man malt, ist
eine Art, Tagebuch zu führen“, meinte Picasso zu Tériade einst. Und er war auch
der Meinung, Signatur und Datierung würden den Betrachtern seiner Kunst dazu
verhelfen, sie besser zu
verstehen, indem sie verstehen, in welchem Lebensabschnitt er sein Werk
geschaffen hat. Er konnte nie verstehen, warum es dermaßen zahlreiche
Interpretationen zu seinem Werk gab, wo er selbst doch immer nur eine sah.
Verraten hat Picasso uns diese Interpretation bedauerlicherweise nicht, aber
durch seine penible Art zu signieren, datieren und nummerieren wollte er es uns
leichter machen, diese selbst zu entdecken. Eine andere Ursache der
Nummerierung liegt meiner Meinung nach ebenfalls im Wunsch, den Betrachtern
etwas zu vermitteln. Eben, weil es keine merkliche Weiterentwicklung gibt, hat
er die Abfolge der Serie festgelegt und sichtbar gemacht. Es gibt sehr wohl
eine Entwicklung von Bild zu Bild, jedes Bild drückt eine Wahrheit des
Musketiers aus, die das Bild zu einem eigenständigen Werk und nicht zum Teil
einer Serie macht. Doch wollte er die Vorstellung durchbrechen, dass
Entwicklung etwas mit „Vorwärtsentwicklung zu tun haben muss. Den Denkprozess
des Künstlers offenzulegen, das war die Idee Picassos hinter der Nummerierung.
Mit
festen Vorstellungen zu brechen und Tabuthemen auf den Tisch zu bringen,
gehörte zu Picassos Lieblingsbeschäftigung. Dies zeigt ein anderes großes Sujet
in diesen 57 Zeichnungen. Es geht um erotische, beinahe pornographische Kunst.
Pablo Picasso, Mann mit Gitarre, 1971, Musée Réattu,
Arles.
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Hier
handelt es sich um eine erotisch angehauchte Darstellung, doch einige Werke der
Ausstellung zeigen deutliche Phallussymbole und gehen so weit, dass die
Handlung oder die Anspielung im Werk ziemlich eindeutig ist. Schon in den
Jahren nach der Jahrhundertwende arbeitete Picasso gemeinsam mit dem
Schriftsteller Guillaume Apollinaire an pornographischen Darstellungen um gegen
den bürgerlichen Moralbegriff zu rebellieren. Nicht nur die Darstellungen von
Akten erhalten Einzug in Picassos Werk, auch sexuelle Handlungen bis hin zu
Vergewaltigungen zieren sein Oeuvre (Eine Sammlung solcher Werke findet sich in
der Suite Vollard). Wieso aber nimmt er noch einmal Anfang der 70er Jahre Bezug
auf dieses Sujet, wenn er sein Lebenswerk in diesen Zeichnungen Revue passieren
lässt? Ein Grund dafür liegt wohl in der Ausstellungskonzeption jener Zeit. Sie
hat diesen Teil aus Picassos Oeuvre größtenteils ausgeklammert und
totgeschwiegen. 1971 will Picasso also mehr gegen den Moralbegriff der Museen
und Kuratoren rebellieren, als der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Er
macht deutlich, dass die Sexualität bis hin zur Pornographie einen wichtigen
Teil seines künstlerischen Werkes darstellt und gezeigt werden muss, um sein
Oeuvre zu verstehen. Um ein weiteres Mal ist er also an der Sichtweise seiner
Werke durch ihre Betrachter interessiert und versucht auf diese Einfluss zu
nehmen.
Diese
letzte Idee wird auch in der Gesamtkonzeption der 57 Zeichnungen deutlich. Da
Picasso die Serie einzig für das
Musée Réattu angefertigt hat, konnte er selbst Einfluss darauf nehmen, wie die
Besucher sein Werk 1971 verstehen sollten. Zwei Jahre vor seinem Tod
beschäftigt sich der Spanier immer mehr mit der Frage, was sein Lebenswerk
ausgemacht hat und was er hinterlässt. Aus diesem Grund stellt sich Schaffen am
Ende seines Lebens hauptsächlich graphisch dar, da diese Arbeitsweise um
einiges rascher ging als die Ölmalerei oder die Anfertigung einer Skultpur:
„Ich habe immer mehr zu sagen und immer weniger Zeit“, soll Picasso kurz vor
seinem Tod gemeint haben. Und typisch für einen Künstler, der sich selbst als
größter Neuerer seiner Zeit gesehen haben dürfte, setzt er sich mit den
wichtigsten Sujets seines Werkes noch einmal auseinander. Dazu gehören neben
den historischen-literarischen Paraphrasen nach anderen Künstlern (Musketiere)
und den Aktdarstellungen (Sexualität) auch die Harlekine und die Maskerade.
Pablo Picasso,
Harlekin, (I von IV), 1971, Musée Réattu.
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Der
traurige Pierrot ist neben dem Stier eines der frühsten Sujets Picassos. Es
taucht 1905 erstmals auf und markiert den Übergang von der blauen zur rosa
Periode, ab diesem Zeitpunkt sollte diese Außenseiterfigur Picassos Oeuvre ein
Leben lang begleiten und in jedem neuen Stil und jedem neuen Medium des
Künstlers auftauchen.
Ziemlich
deutlich hat Picasso also noch selbst an dem Bild mitgearbeitet, dass die
Nachwelt einmal von ihm und seinem Gesamtwerk haben sollte. Mit neuen Ideen zum
Betrachterstandpunkt und zur Behandlung des Betrachters hat sich Picasso nicht
auseinandergesetzt. Trotzdem nahm er in zahlreichen Werken Bezug auf seine
Zuschauer. Als emanzipiert allerdings könnte man jenen nicht bezeichnen, denn
Picasso ist es, der die Ideen und Empfindungen seiner Betrachter lenkt und sie
manipuliert, wie er es auch durch die angeblich spontanen Fotografien von sich
selbst versuchte, die, wie wir durch die Fotografen erfuhren, penibel geplant
wurden.
Ich
finde die Ausstellung sehr gelungen und konnte bei den meisten Besuchern vor
allem Freude und Amüsement beobachten, denn viele Zeichnungen sind ironisch und
stecken voller Anspielungen oder zeigen einen exzentrischen bis beinahe
verletzlichen Picasso. Im Zusammenspiel mit den Fotografien aus Arles, die
Picasso zeigen, ist der Blick in die 36 Tage im Leben des Künstlers spannend
und regt zum Nachdenken an. Schließlich möchte ich noch die Ausstellung in der
oberen Etage des Museum erwähnen, sie zeigt das Spätwerk des Künstlers Georges
Braque. Und wenn ich auch wenig begeistert bin von den Vogeldarstellungen, ist
es allein die Serie zu Hesiods „Theogonie“ wert, diesen Teil der Ausstellung
ebenfalls zu besuchen.
Liza